Zur Startseite
Zeitzeugin Tamar Dreifuss berichtet über Verfolgung während der NS-Diktatur und ihre Flucht aus dem Konzentrationslager

Es ist absolut still, als Tamar Dreifuss zur Eröffnung der Anne-Frank-Woche am Joseph-DuMont-Berufskolleg am 06. November 2023 aus den Aufzeichnungen ihrer Mutter Jetta Schapiro „Wir waren auch in Ponar“ vorliest. Diese hat sie aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“ veröffentlicht. Die 85-jährige Dame berichtet seit über 25 Jahren in Schulen von ihren Erlebnissen im jüdischen Ghetto in Wilna, im heutigen Litauen, der Deportation ins Konzentrationslager und der anschließenden Flucht. „Man muss was tun, wenn der Antisemitismus wieder aufflammt“, sagt sie appellierend vor den 400 Schülerinnen und Schülern in der Aula der Schule.

Der Vortrag bildete den Auftakt einer Reihe von Workshops, Ausstellung und Exkursionen, in denen der Holocaust und die Verfolgung von Minderheiten in der NS-Diktatur anlässlich des 85. Jahrestages der Pogromnacht am 09. November 1938 thematisiert wird. Gleichzeitig sollen die Aktionen der „Anne Frank Woche“ den Blick auf die Gegenwart lenken und den Auftrag der heutigen Gesellschaft unterstreichen, alles zu tun, damit Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung von Minderheiten sich nicht mehr wiederholen.

Dreifuss.2Immer wieder blickt die Zeitzeugin von ihrem Skript auf. Sie erläutert den Zuhörenden, welche Bilder ihr dazu noch in den Kopf kommen. Etwa wenn sie davon berichtet, wie ihre Mutter sie, die von einer entfernten, zum Christentum konvertierten Tante versteckt worden war, abgeholt hat. „‘Bist Du meine Mama?‘, habe ich die Frau gefragt, die da vor mir stand und weinte“, erinnert sich Dreifuss. Die Zeit im Ghetto von Wilna, in dem die Familie in ständiger Angst vor der Deportation lebte, der Atem des Vaters, der sie getragen hatte, ehe er von den Nazis mit anderen Männern abgeführt wurde und nie wiederkehrte oder die Deportation mit ihrer Mutter im überfüllten Viehwaggon – das alles ist der 85-Jährigen immer noch präsent und sie schildert es so, dass man in die Gefühlswelt der kleinen Tamar eintaucht.

„Dass ich überlebt habe, ist ein Wunder“, kommentiert sie die Flucht aus dem Lager. „Meine Mutter hatte für sich beschlossen, dass sie lieber auf der Flucht sterben wollte, als zur Schlachtbank geführt zu werden“, so Dreifuss. Die meisten hätten die Umstände der Deportation und die Situation im Lager jeglichen Lebensmut genommen. Ihre Mutter jedoch hat nach einer Gemeinschaftsdusche ein Kostüm für sich und ein Kleid für die Tochter vom Kleiderberg genommen, sich zurecht gemacht und mit der Tochter an der Hand einfach aus dem Lager gegangen. Tamar Dreifuss: „Ich habe meiner Mutter gefragt, ob die uns nicht sehen.“ Denn ein wachhabender Soldat wurde abgelenkt und beachtete Mutter und Kind nicht. Und das Tor des Lagers war nicht verschlossen.
Auch danach war ihre Odyssee noch nicht vorüber: Die Mutter brachte sich und das Kind als Arbeiterin auf Bauernhöfen durch. Dort freundete sich die kleine Tamar unter anderem mit einem Wachhund an. Das rettete ihr und der Mutter das Leben, als Partisanen auf den Hof kamen. „Wir versteckten uns zwei Tage in der der Hundehütte und Tigris, der Hofhund teilte mit uns Wasser und Futter.“ Als die Rote Armee schließlich die Gegend befreit hatte, schenkte sie Tigris zum Abschied ihre Flickenpuppe.

Erst in Israel kamen Mutter und Tochter zu Ruhe. „Ich habe dort eine wunderbare Jugend verlebt und bin nur der Liebe wegen nach Deutschland gekommen“, erklärt sie. Daher nehme sie die aktuelle Entwicklung in Israel sehr mit. „Fremdenhass darf nirgendwo auf der Welt Platz haben“, forderte sie und stimmte mit den Schülerinnen und Schülern das Lied „Hevenu Shalom Alachem -Wir wollen Frieden für alle“ an.

Für die betagte Dame ist diese Arbeit an Schulen ein Beitrag junge Menschen dafür gewinnen, dass Antisemitismus und Fremdenhass keinen Platz in einer demokratischen Gesellschaft haben dürfen. Sie wünsche sich nichts mehr als Frieden. Tamar Dreifuss: „Der Weg ist weit, aber die Hoffnung ist da.“

Text: Bernadette Scheurer

Fotos: Vaaßen